Der 1971 unter dem Motto ‘Rettet unsere Städte
jetzt!’ tagende Deutsche Städtetag drückt angesichts der
wachsenden Probleme in den Städten die Suche nach einem ‘dritten
Weg’ aus, “der die Selbstzerstörung der Städte durch die
Mechanismen des übermächtig gewordenen Industriesystems ebenso
vermeidet wie die Allabhängigkeit des Menschen im System eines
doktrinären Zentralismus .”[158]
Besonders interessant erscheint uns in diesem Zusammenhang der
grundlegende Aufsatz von John Kenneth Galbraith, der bei seinen
Prognosen über die ‘Zukunft der Städte im modernen
Industriesystem’ das ‘Konzept einer organischen Stadt’
entwickelt. Galbraith beschreibt zunächst die Entwicklung der
Städte im Kapitalismus. “Mit der industriellen Revolution
wurde die Städteplanung (...) liberalisiert, dezentralisiert,
säkularisiert. Aus der patriarchalischen Stadt wurde die
ökonomische Stadt .”[159]
Stadtverwaltungen haben in der ökonomischen Stadt nicht viel
mehr Funktionen, als die EinwohnerInnen und - vor allem - die
ortsansässigen Unternehmen zu versorgen. Zum Maßstab aller
Dinge wird die Erwirtschaftung maximalen Profits. Deshalb ist es
auch selbstverständlich, daß Grund und Boden von ihren privaten
Eigentümern so eingesetzt werden, daß sie den höchsten
ökonomischen Nutzen erbringen. Diese Stadt der Wirtschaft muß
in der Regel selbst nach ihren Einkommensquellen suchen, so daß
geringe kommunale Dienstleistungen die Folge sind. “In der
ökonomischen Stadt finden wir somit die Ursprünge nahezu aller
Probleme, die die moderne urbane Existenz heute kennzeichnen .”[160]
Der Ansatz zu einer Lösung der Probleme liegt nach Galbraigth in
einer Abkehr von der Konzeption der ökonomischen Stadt und der
Hinwendung zu einer Politik, die den Erfolg einer Stadt an
sozialen Maßstäben und dem Wohlbefinden aller EinwohnerInnen
mißt. Bereits 1971 wird in diesem Zusammenhang die ‘autogerechte
Stadt’ in Frage gestellt: “Wenn sich die Luft in New York
weiter verschlechtert, wird die Freiheit derer, die gegen
öffentliche Ausgaben zu Felde ziehen, bestenfalls im Jenseits
erreicht werden .”[161]
Als wesentliche Aufgabe der Städte wird die stärkere Kontrolle
der Nutzung von Grund und Boden genannt. Über eine Stärkung
bzw. den konsequenteren Einsatz der kommunalen Planungshoheit
soll erreicht werden, daß ökonomische Prioritäten der
EigentümerInnen von Grund und Boden hinter dem ‘Allgemeinwohl’
- etwa den Bedürfnissen aller StadtbewohnerInnen nach
bezahlbaren Wohnungen, kulturellen Leistungen, Erholungsflächen
und einer intakten Umwelt - zurückstehen müssen. “Eine
organische Sicht der Stadt erfordert eine organische Nutzung des
Raumes. Private Nutzung muß sozialen Bedürfnissen und
Entscheidungen untergeordnet werden. Kein Haushaltsvorstand kann
bei Zuschnitt und Ausstattung der einzelnen Räume seiner Wohnung
nachlässig sein. So verhält es sich auch in der Stadt .”[162]
Ein weiter Punkt ist die Ausweitung der kommunalen Angebote und
Dienstleistungen. Die Finanzierung dieser wachsenden Aufgaben
kann nur durch eine adäquate Zuweisung von staatlichen Einnahmen
aus Steuergeldern geschehen. Neue Prioritäten können nicht die
Städte allein setzen - sie müssen in der gesamten Gesellschaft
diskutiert und durchgesetzt werden. “Die Einnahmen müssen
dahin fließen, wo die Aufgaben liegen .”[163]
Schließlich fordert Galbraith, daß Aufgaben der sozialen
Grundsicherung nicht im Zuständigkeitsbereich der Kommune,
sondern des Staates liegen müssen. “Der Staat verfügt
über Mittel, die der Aufgabe eher angemessen sind. (...)
Hingegen muß die städtische Haushaltsführung und die
Versorgung mit Gemeinschaftseinrichtungen bürgernah sein .”[164]
Diese Forderungen, mögen sie auch 24 Jahre alt sein, haben im
Jahre 1995 nichts an ihrer Aktualität verloren. Allerdings
scheint das Wissen um eine kommunalpolitische Diskussion, die
einst auf relativ hohem Niveau geführt wurde, mittlerweile
längst aus den Köpfen von KommunalpolitikerInnen verschwunden
zu sein. Die Kassen sind leer und Pragmatismus hat sich auch
derer bemächtigt, die noch in den siebziger und achtziger Jahren
für wesentlich weitergehendere Forderungen gestritten haben. Es
ist kaum noch vorstellbar, daß eine zentrale Aussage aus
Alexander Mitscherlichs 1965 veröffentlichtem Pamphlet ‘Die
Unwirtlichkeit unserer Städte - Anleitung zum Unfrieden’ etwa
bei einer Fraktionssitzung der Grünen in einer x-beliebigen
Stadt heute noch ernsthaft diskutiert würde:
“Zudem ist der Autor sich im klaren, daß ein Volksaufstand
zu befürchten stünde, wenn eine starke Gruppe seine These von
der Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in
unseren Städten sich zu eigen machte. Das wäre ihm ein Trost,
denn dann käme vielleicht die seit Jahrhunderten fällige
deutsche Revolution, der Anlaß wäre ihrer würdig .”[165]
[158] Deutscher Städtetag, Rettet unsere Städte jetzt, S.
10.
[159] Ebenda, S. 13.
[160] Ebenda, S. 16.
[161] Ebenda, S. 22.
[162] Ebenda, S. 19.
[163] Ebenda, S. 23.
[164] Ebenda, S. 22 ff.
[165] Mitscherlich, A., Die Unwirtlichkeit unserer Städte -
Anstiftung zum Unfrieden, S. 7.