Die soziologischen Ursachen dieses ‘Reurbanisierungs-Trends’
liegen Beck (1986) zufolge in einem ‘Individualisierungsschub’
der Bevölkerung. [118]
Die Relationen sozialer Ungleichheit sind zwar in der
Bundesrepublik seit 1945 weitgehend gleich geblieben, insgesamt
jedoch gibt es ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Recht,
Mobilität, Wissenschaft, Massenkonsum. Diese Entwicklung wird
als “ ‘Fahrstuhl-Effekt’ [bezeichnet]: die
Klassengesellschaft wird insgesamt eine Etage höher gefahren.
(...) Gleichzeitig wird ein Prozeß der Individualisierung und
Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang
gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten
unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt .”[119] Die drei Komponenten
Lebenszeit, Arbeitszeit und Arbeitseinkommen haben sich im
Verlauf des letzten Jahrhunderts “grundlegend zugunsten
einer Entfaltung der Lebenschancen verschoben .”[120] Die Lebenserwartung ist in
diesem Zeitraum bei Männern um 10, bei Frauen um 13 Jahre
gestiegen. Die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit hat sich um
ein Viertel bis ein Drittel verringert und die Reallöhne
vervielfacht. [121] Noch im
Jahre 1950 machten Kleidung, Nahrung und Wohnung drei Viertel des
zur Verfügung stehenden Einkommens von ArbeiterInnen aus - 1973
sind es nur noch 60%. Insgesamt führt dies zu einem “Umbruch
im Verhältnis von Arbeit und Leben ”.[122]
Die ‘Bildungsexplosion’ führt nicht nur zu einer generellen
Anhebung des Bildungsniveaus, sie verschiebt auch die noch bis in
die fünfziger/sechziger Jahre bestehenden
Ungleichheitsrelationen von Geschlechtern und Klassen/Schichten.
Der ‘Bildungsschub’ [123]
beschert einem Großteil der Bevölkerung - vor allem aber
Mädchen und Frauen sowie ArbeiterInnenkindern - eine deutliche
Anhebung ihres Wissenstandes und ihrer schulischen und
berufsbezogenen Qualifikationen. Damit ist allerdings immer
weniger eine Garantie verbunden, eine der (Aus)Bildung und
Qualifizierung entsprechende Arbeitsstelle zu finden. [124]
Insgesamt haben sich die Möglichkeiten einer individuellen
Lebensgestaltung in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert.
Dieser ‘Individualisierungsschub’ drückt sich vor allem im
Ausprobieren anderer Lebensstile aus. Die Suche nach neuen Formen
des Wohnens und die Ablehnung bürgerlicher Lebensmodelle sind
seit den siebziger/achtziger Jahren nicht nur für StudentInnen
und ‘Alternative’ typisch. Auch Besserverdienende bevorzugen
heute oft andere Formen der Lebensgestaltung. Die Auswirkungen
dieser kulturellen Ausdrucksform gesellschaftlicher
Veränderung auf den Wandel innerstädtischer Wohngebiete stellen
wir im folgenden Kapitel anhand des Phänomens der ‘gentrification’
dar.
[118] Vgl. Beck, U., Risikogesellschaft.
[119] Beck, U., Risikogesellschaft, S. 122.
[120] Ebenda , S. 122.
[121] Der Reallohn von IndustriearbeiterInnen hat sich
beispielsweise von 1880 bis 1970 verdreifacht.
[122] Beck, U., Risikogesellschaft, S. 124.
[123] Vgl. Kap. C. II. 1.1.6 (Die sozialliberale Koalition:
Ostverträge, Bildungsreform und Berufsverbote).
[124] Parallel zu einer seit den sechziger/siebziger Jahren
wachsenden Individualisierung verschärfen sich die sozialen
Unterschiede unter sich verändernden ökonomischen und
politischen Bedingungen. Beck beschreibt diese Entwicklung anhand
der Indikatoren Arbeitslosigkeit und Einkommen. Bereits seit 1975
- jedoch noch deutlicher in den achtziger Jahren - ist bei
steigender Arbeitslosigkeit eine positive Einkommensentwicklung
von Unternehmen und Selbständigen zu beobachten. Während das
Einkommen von Angestellten, BeamtInnen und ArbeiterInnen
ungefähr parallel zur Durchschnittsentwicklung verläuft, sinken
die Bezüge vor allem der SozialhilfeempfängerInnen und
Arbeitslosen. Die in der Bundesrepublik spätestens seit Beginn
der achtziger Jahre stark ansteigende Massenarbeitslosigkeit und
die ‘neue Armut’ werden jedoch immer weniger als kollektives
Schicksal einer bestimmten gesellschaftlichen Großgruppe -
Klasse oder Schicht - begriffen, sondern individualisiert. “Massenarbeitslosigkeit
wird, zerlegt in (scheinbar) vorübergehende Zwischenphasen,
unter den Teppich der Normalität gefegt. Arbeitslosigkeit dieser
Größenordnung wird ohne politischen Aufschrei hingenommen,
gleichsam wegindividualisiert ”, Beck, U.,
Risikogesellschaft, S. 149.