2.2 ‘Individualisierungsschub’ und ‘Fahrstuhl-Effekt’

Die soziologischen Ursachen dieses ‘Reurbanisierungs-Trends’ liegen Beck (1986) zufolge in einem ‘Individualisierungsschub’ der Bevölkerung. [118]
Die Relationen sozialer Ungleichheit sind zwar in der Bundesrepublik seit 1945 weitgehend gleich geblieben, insgesamt jedoch gibt es ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Recht, Mobilität, Wissenschaft, Massenkonsum. Diese Entwicklung wird als “ ‘Fahrstuhl-Effekt’ [bezeichnet]: die Klassengesellschaft wird insgesamt eine Etage höher gefahren. (...) Gleichzeitig wird ein Prozeß der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt .”[119] Die drei Komponenten Lebenszeit, Arbeitszeit und Arbeitseinkommen haben sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts “grundlegend zugunsten einer Entfaltung der Lebenschancen verschoben .”[120] Die Lebenserwartung ist in diesem Zeitraum bei Männern um 10, bei Frauen um 13 Jahre gestiegen. Die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit hat sich um ein Viertel bis ein Drittel verringert und die Reallöhne vervielfacht. [121] Noch im Jahre 1950 machten Kleidung, Nahrung und Wohnung drei Viertel des zur Verfügung stehenden Einkommens von ArbeiterInnen aus - 1973 sind es nur noch 60%. Insgesamt führt dies zu einem “Umbruch im Verhältnis von Arbeit und Leben ”.[122]
Die ‘Bildungsexplosion’ führt nicht nur zu einer generellen Anhebung des Bildungsniveaus, sie verschiebt auch die noch bis in die fünfziger/sechziger Jahre bestehenden Ungleichheitsrelationen von Geschlechtern und Klassen/Schichten. Der ‘Bildungsschub’ [123] beschert einem Großteil der Bevölkerung - vor allem aber Mädchen und Frauen sowie ArbeiterInnenkindern - eine deutliche Anhebung ihres Wissenstandes und ihrer schulischen und berufsbezogenen Qualifikationen. Damit ist allerdings immer weniger eine Garantie verbunden, eine der (Aus)Bildung und Qualifizierung entsprechende Arbeitsstelle zu finden. [124]
Insgesamt haben sich die Möglichkeiten einer individuellen Lebensgestaltung in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Dieser ‘Individualisierungsschub’ drückt sich vor allem im Ausprobieren anderer Lebensstile aus. Die Suche nach neuen Formen des Wohnens und die Ablehnung bürgerlicher Lebensmodelle sind seit den siebziger/achtziger Jahren nicht nur für StudentInnen und ‘Alternative’ typisch. Auch Besserverdienende bevorzugen heute oft andere Formen der Lebensgestaltung. Die Auswirkungen dieser kulturellen Ausdrucksform gesellschaftlicher Veränderung auf den Wandel innerstädtischer Wohngebiete stellen wir im folgenden Kapitel anhand des Phänomens der ‘gentrification’ dar.


[118] Vgl. Beck, U., Risikogesellschaft.
[119] Beck, U., Risikogesellschaft, S. 122.
[120] Ebenda , S. 122.
[121] Der Reallohn von IndustriearbeiterInnen hat sich beispielsweise von 1880 bis 1970 verdreifacht.
[122] Beck, U., Risikogesellschaft, S. 124.
[123] Vgl. Kap. C. II. 1.1.6 (Die sozialliberale Koalition: Ostverträge, Bildungsreform und Berufsverbote).
[124] Parallel zu einer seit den sechziger/siebziger Jahren wachsenden Individualisierung verschärfen sich die sozialen Unterschiede unter sich verändernden ökonomischen und politischen Bedingungen. Beck beschreibt diese Entwicklung anhand der Indikatoren Arbeitslosigkeit und Einkommen. Bereits seit 1975 - jedoch noch deutlicher in den achtziger Jahren - ist bei steigender Arbeitslosigkeit eine positive Einkommensentwicklung von Unternehmen und Selbständigen zu beobachten. Während das Einkommen von Angestellten, BeamtInnen und ArbeiterInnen ungefähr parallel zur Durchschnittsentwicklung verläuft, sinken die Bezüge vor allem der SozialhilfeempfängerInnen und Arbeitslosen. Die in der Bundesrepublik spätestens seit Beginn der achtziger Jahre stark ansteigende Massenarbeitslosigkeit und die ‘neue Armut’ werden jedoch immer weniger als kollektives Schicksal einer bestimmten gesellschaftlichen Großgruppe - Klasse oder Schicht - begriffen, sondern individualisiert. “Massenarbeitslosigkeit wird, zerlegt in (scheinbar) vorübergehende Zwischenphasen, unter den Teppich der Normalität gefegt. Arbeitslosigkeit dieser Größenordnung wird ohne politischen Aufschrei hingenommen, gleichsam wegindividualisiert ”, Beck, U., Risikogesellschaft, S. 149.


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