Am 6. Juli 1921 besetzen rund 25 AnarchistInnen
und Anarcho-SyndikalistInnen, durchweg ArbeiterInnen und
Arbeitslose, ein Gelände des staatlichen Forstes im Bezirk der
Bürgermeisterei Erkrath, angrenzend zu Hilden, Erkrath, Benrath
und Düsseldorf - die sogenannten ‘Hildener Banden’. Alle
Mitglieder gehören ausnahmslos der ‘Freien Arbeiter Union
Deutschlands’ (FAUD [S] [271])
an [272].
Düsseldorf, das ist heute weitgehend unbekannt, war eine
Hochburg der anarcho-syndikalistischen Bewegung. Die FAUD hatte
hier zeitweise bis zu 20.000 Mitglieder, und zwar “überwiegend
Metall und Stahlarbeiter, Bauarbeiter und Fliesenleger, und sogar
einzelne (kaufmännische und technische) Angestellte ”.[273] In Düsseldorf wurde auch -
von 1921 bis 1923 - die einzige anarcho-syndikalistische
Tageszeitung herausgegeben, die den programmatischen Titel trug:
‘Die Schöpfung - sozialrevolutionäres Organ für ein
sozialistisches Neuland’. Arbeitskämpfe von in der FAUD
organisierten ArbeiterInnen - wie zum Beispiel die
Auseinandersetzungen um die 5-Tage-Woche, die 1929 gewonnen
wurden - liefen nicht selten militant ab: StreikbrecherInnen
wurden konsequent am Betreten des bestreikten Betriebes
gehindert, revolutionäre Fliesenleger schlugen die bereits
verlegten Fliesen nachts wieder ab [274].
Die AnarchistInnen lehnten bürgerliche Normen ab und
propagierten Ideen vom direkten “Austreten aus dem
Kapitalismus ”[275].
Neue Lebens- und Produktionsformen sollten sofort ausprobiert und
Weltveränderung nicht erst im historisch richtigen Augenblick
betrieben werden . “In Berlin propagierte Gustav Landauer,
einer der Mitbegründer des ersten Konsumvereins dort, den
Ausstieg aus der profitorientierten Kapitalwirtschaft. In seinem
Geiste eine Gemeinschaft zu gründen, bedeutete, zu versuchen,
gemeinsam zu produzieren, zu leben und unabhängig zu sein .”[276] Die BesetzerInnen der ‘Hildener
Banden’ waren ganz offensichtlich von Landauers
sozialrevolutionären Ideen inspiriert. [277]
Die BesetzerInnen des Grundstücks in den ‘Hildener Banden’
bauen zunächst eine Rasenhütte - “ein geräumiger
Unterstand aus Rasenbollen ”[278],
roden ein Stück Land für den Gartenbau und verkaufen Fotos an
neugierige Besucher. SprecherInnen der Gruppe, die von der
Polizei mißtrauisch beobachtet und für KommunistInnen gehalten
werden, sind die Eheleute Anna und Waldemar Kutschke. Letzterer
ist außerdem im Reisholzer ‘Preß- und Walzwerk’
beschäftigt und damit einer der wenigen in der Gruppe, der einer
Arbeit nachgeht. Kutschke hält den Kontakt zur ‘Arbeiterbörse’
der FAUD, die wie alle Gewerkschaften Schwierigkeiten hat,
Kontakt zur arbeitslosen Bevölkerung aufzunehmen [279].
“Im August 1921 wurde das Fundament für das erste Steinhaus
gelegt - es sollte entgegen der ursprünglichen Planung, das
einzige werden, das von dieser Gruppe fertiggestellt werden
konnte .”[280] Spätere
Nachbarhäuser stammen nicht mehr von ihr.
Die SiedlerInnen leben von dem Einkommen Waldemar Kutschkes und
Sachspenden örtlicher FAUD-Mitglieder. Obwohl die Besetzung auch
innerhalb der FAUD sehr umstritten ist [281], erfahren die SiedlerInnen zunächst
dennoch Unterstützung durch GenossInnen : “So wurde das
Fundament und die Grundmauern [des Hauses] aus einer ‘Wagenladung
Steinen’ errichtet, die (...) von den syndikalistischen
Bauarbeitern der Firma ‘Haniel und Lueg kostenlos zur
Verfügung gestellt’ wurden ”[282].
Weitere Solidarität finden die SiedlerInnen im
anarcho-syndikalistischen Sängerverein ‘Freie Sänger 04’,
der auf dem Gelände der ‘Freien Erde’ ein
Solidaritätskonzert gibt, oder auch bei namhaften Künstlern wie
zum Beispiel Gustav Gründgens, dem Ensemble des Düsseldorfer
Schauspielhauses, Gerd Wollheim - Mitglied der
KünstlerInnengruppe ‘Junges Rheinland’ - oder auch Dr. Erwin
Quedenfeld, dem Vorsitzenden des Düsseldorfer “Monistenbundes”
[283].
Schon bald wird die Siedlung Ausflugsziel tausender Düsseldorfer
Familien, neugieriger SympathisantInnen, sowie Treffpunkt von
Anarcho-SyndikalistInnen der gesamten rheinisch-bergischen
Region. [284]
Immer wieder sehen sich die SiedlerInnen heftigen Angriffen durch
die Polizei ausgesetzt. Die Eigentümerin des Grundstücks, die
staatliche Forstverwaltung und der Großgrundbesitzer Richartz,
dem das anliegende Gelände gehört, drängen unaufhörlich auf
die polizeiliche Räumung. Doch die SiedlerInnen wehren sich
rigoros. Die Formen ihres Widerstandes werden in der Literatur
unterschiedlich dargestellt. In manchen Quellen wird behauptet,
daß sie sich mit Waffengewalt und ‘Molotov-Cocktails’
verteidigt hätten - in anderen ist lediglich von ‘Fäusten’
und einer ‘Mistgabel’ die Rede. [285]
Ab dem Herbst 1921 wird die ‘Freie Erde’ zunächst amtlich
geduldet. Schließlich unterschreiben die BewohnerInnen 1922,
unter anderem wegen ihrer guten Beziehungen zu einem hohen
Regierungsbeamten und unter Maßgabe der Gründung eines
eingetragenen Vereins (die ‘Produktive Genossenschaft Freie
Erde e.V.’), einen 99-jährigen Pachtvertrag.
Die Erfolge der ‘Freien Erde’ liegen vor allem in der
Schaffung von kostenlosem Wohnraum und Selbstversorgung für
einige GenossInnen und ihre Kinder. Außerdem wird hier ein
Treffpunkt für FreundInnen und MitstreiterInnen geschaffen.
Trotz dieser Erfolge kommt es in der Folgezeit zu Streitigkeiten
innerhalb der Gruppe. Viele der ursprünglichen Ziele werden
nicht erreicht. So schaffen es die AnarchistInnen nicht, “weitere
Genoss(inn)en für die Vergrößerung der Siedlung zu gewinnen,
um mit mehr Land und Werkstätten und in engem Kontakt mit
FAUD-Organisationen in den Düsseldorfer Betrieben eine Art ‘Arbeitslosenvermittlungsdienst’
aufzubauen. Auch die Belieferung der Genossen in der Stadt mit
Gemüse gelang wegen der zu geringen Produktion nicht .”[286] Das hängt unter anderem
damit zusammen, daß die Unterstützung von GenossInnen aus der
Stadt im Laufe der Zeit immer geringer wird.
Aber es gibt noch ganz andere Gründe für Spannungen in der
Gruppe: So wohnen die gesamten SiedlerInnen - immerhin 20 bis 25
Personen - in einem einzigen Haus. Auch über die Verwirklichung
anarchistischer Ideale und Lebensweisen wird gestritten.
Meinungsverschiedenheiten gibt es beispielsweise bei den Themen
‘freie Liebe’, ‘PartnerInnenwechsel’ oder ‘Nudismus’.
1923 spaltet sich die GründerInnengruppe der ‘Freien Erde’.
Nur das Ehepaar Kutschke bleibt mit seinen drei Kindern auf der
‘Freien Erde’ wohnen. [287]
[271] Das ‘S’ steht für ‘Syndikalisten’, eine
anarchistische Fraktion, die revolutionäre gewerkschaftliche
Organisierung von ArbeiterInnen betrieb
[272] Vgl. ebenda, S. 298.
[273] Fandango e.V., Stadtbuch Düsseldorf 1988, S. 36.
[274] Vgl. ebenda, S. 33 ff.
[275] Novy, K., u.a.., Reformführer NRW, S. 326
[276] Ebenda, S. 326
[277] Auf einer an dem Haus angebrachten Marmortafel war zu
lesen: “Im Geiste Gustav Landauers besiedelten wir am 6. Juli
1921 dieses Brachland u. nannten es bestimmungsgemäß ‘Freie
Erde’”, Klan, U., Nelles, D., Es lebt noch eine Flamme, S.
269.
[278] Ebenda, S. 273.
[279] Vgl. ebenda, S. 275 ff.
[280] Ebenda, S. 274 ff.
[281] “Sie [die SiedlerInnen] hatten sich dennoch
pausenlos vor den übrigen Anarcho-Syndikalisten zu
rechtfertigen, die ihnen immer wieder vorwarfen, sie wollte sich
mit ihren Initiativen aus dem sozialrevolutionären Kampf
zurückziehen, seien auf den Wege der ‘Verbürgerlichung’ und
wollten nur individuell ‘ihr Schäfchen ins Trockene bringen’
.” Auch Gustav Landauer soll, nach Aussage seines Genossen
Erich Mühsam, seine Thesen unter dem Eindruck der
Novemberrevolution und der Massenkämpfe geändert haben: “‘Den
Genossen jedoch, die auch jetzt noch durch Gründungen
vegetarischer Siedlungsspielereien Landauers Vermächtnis
erfüllen zu sollen meinen, sei berichtet, daß mir Landauer Ende
1918 und Anfang 1919 wiederholt erklärt hat, derartige
Resignations-Retiraden seien doch jetzt...ganz sinnlos geworden.’”
Vgl. ebenda, S. 268 ff.
[282] Ebenda, S. 275.
[283] Monismus: Weltauffasung, die als Grund der Wirklichkeit
nur ein einziges absolutes Prinzip annimmt. - vgl.
Xenos-Fremdwörterlexikon, Hamburg 1982.
[284] Und die BesetzerInnen erschließen durch den Verkauf
von Kaffee, Kuchen und Limonade an BesucherInnen eine neue
Einnahmequelle.
[285] Vgl. Klan, U., Nelles, D., Es lebt noch eine Flamme, S.
279.
[286] Fandango e.V., Stadtbuch Düsseldorf 1988, S. 37 ff.
[287] Während des Faschismus verstecken die Kutschkes hier
eine Jüdin und einen polizeilich gesuchten Syndikalisten. Das
Haus der ‘Freien Erde’ wird erst 1974 abgerissen - “die
Bagger kamen einer geplanten Besetzung durch Jugendliche aus
Eller nur knapp zuvor ”.- Ebenda, S. 39.