Zur Erläuterung des Stellenwerts, den die
bundesdeutsche Rechtsprechung dem in Art. 14 (1) GG garantierten
Recht auf Eigentum einräumt, werden wir uns im Folgenden mit den
Grenzen von staatlichen Möglichkeiten beschäftigen,
beispielsweise im Interesse der ‘öffentlichen Sicherheit und
Ordnung’ in dieses Eigentumsrecht einzugreifen. Wir wählen
dabei das Beispiel der ‘Beschlagnahme von Wohnraum durch einen
Verwaltungsakt gemäß § 14 und § 19 Ordnungsbehördengesetz
(OBG) NRW zur Vermeidung von Obdachlosigkeit’.
Zunächst ein kurzer Exkurs über die rechtlichen Grundlagen der
§§ 14 und
19 OBG:
Hat ein(e) von Obdachlosigkeit bedrohte Person bis zur
gerichtlich angeordneten Zwangsräumung der bisherigen Wohnung
keine Ersatzunterkunft gefunden, ist die Ordnungsbehörde nach
den Ordnungs- und Polizeigesetzen der Länder verpflichtet, den
oder die Räumungspflichtige(n) in eine Notunterkunft oder
vorübergehend in die bisherige Wohnung einzuweisen. Dadurch
entstehen für den/die Eingewiesene(n) allerdings keine
mietähnlichen Rechte. Die Beschaffenheit der Unterkunft muß
lediglich den Mindestanforderungen für einen ‘menschenwürdigen
Aufenthalt’ genügen. [36]
“Die Verhinderung der Obdachlosigkeit kann
erforderlichenfalls auch durch die Inanspruchnahme freier und
geeigneter Räume gegen den Willen des Verfügungsberechtigten
(Hauseigentümer, Vermieter) im Einzelfall mittels Beschlagnahme
(leerstehender Wohnraum, Hotelzimmer) oder Wiedereinweisung des
Räumungspflichtigen in seine bisherige Wohnung erfolgen .”[37] Dies geschieht in NRW auf
Grundlage der §§ 14 und 19 OBG.
Nach § 14 (1) OBG können die Ordnungsbehörden “die
notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle
bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ”[38] abzuwehren. Zur
Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit zählt u.a. “der
Schutz von Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, oder Vermögen des
Einzelnen ”.[39] Eine
obdachlose Familie bedeutet demnach eine “Gefahr für die
öffentliche Ordnung, da es zu einem
geordneten Zusammenleben der Menschen gehört, daß jeder über
ein Obdach verfügt .”[40]
Der § 19 (1) OBG bestimmt, daß die Ordnungsbehörde auch “Maßnahmen
gegen andere Personen als die (...) Verantwortlichen richten
kann, wenn
1. eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwenden ist, (...)
3. die Ordnungsbehörde die Gefahr nicht oder nicht
rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann,
4. die Personen ohne erhebliche eigene Gefährdung und ohne
Verletzung höherwertiger Pflichten in Anspruch genommen werden
können .”[41]
Allerdings setzt § 19 (2) OBG dieser Maßnahme enge zeitliche
Grenzen. Es handelt sich hier also lediglich um ein kurzfristiges
Mittel vor allem der Kommunen, PrivateigentümerInnen durch die
Beschlagnahme ihres leerstehenden Wohnraums - nur in besonderen
Notlagen - die Verfügungsgewalt über ihr Eigentum zu entziehen.
Hier scheint der Gesetzgeber dem privaten Eigentumsrecht Grenzen
gesetzt zu haben, damit die öffentlichen Hände in einer -
formal ordnungspolitischen, real auch sozialen - Notlage Abhilfe
schaffen können. [42] Das dem
nicht so ist, zeigen die gescheiterten Versuche verschiedener
Kommunen in NRW, die §§ 14 und 19 OBG am Ende der achtziger
Jahre, in einer Situation dramatisch ansteigender
Obdachlosenzahlen, anzuwenden. Wir werden nun die Geschehnisse in
Köln etwas genauer betrachten.
Am 18. August 1988 bringt das OVG Münster in einem Beschluß zu
Ausdruck, daß “der Antragsgegner [gemeint ist die Stadt
Köln; d.V.] nicht glaubhaft gemacht hat, daß er einer
drohenden Obdachlosigkeit der Beigeladenen nicht rechtzeitig
durch eigene Maßnahmen hätte vorbeugen können .”[43] Damit bestätigt das OVG ein
gleichlautendes Urteil des VG Köln vom 11. Mai 1988, in dem der
Klage eines Vermieters stattgegeben und eine von der Stadt Köln
verfügte Beschlagnahme von Wohnraum als rechtswidrig verworfen
worden war. Nach der Argumentation des OVG reicht es nicht aus,
daß die Stadt ermittelt hat, ob stadteigene Unterkünfte frei
oder Hotelräume zur Verfügung stehen. Denn: “Die Behörde
muß ihre eigenen Kapazitäten zur Beseitigung der
Obdachlosigkeit rechtzeitig und umfassend durch Anmietung von
Wohnraum erweitern, wenn (...) sich schon im Vorfeld weiterer
Fälle, in denen Obdachlosigkeit droht, abzeichnet oder
feststeht, daß der (...) zur Verfügung stehende Raum zur
Unterbringung weiterer Obdachloser nicht mehr ausreicht. Die
Inanspruchnahme Dritter nach § 19 OBG durch Erlaß einer
Ordnungsverfügung ist das letzte zur
Beseitigung der Obdachlosigkeit zur Verfügung stehende Mittel .”[44]
Aus einer Stellungnahme der Kölner Stadtverwaltung zu diesem
Beschluß geht hervor, welchen Umfang die Maßnahmen der
Behörden zur Abwendung von Obdachlosigkeit im August 1988
besaßen. So waren “ca. 1.400 [städtische] Wohneinheiten
mit ca. 66.700 qm in 72 Häusern ”[45] kontinuierlich mit Obdachlosen belegt.
Ungefähr 750 Hotelbetten, u.a. auf einem Hotelschiff, wurden
für Obdachlose angemietet. Außerdem wurden in großer Zahl neue
Wohnheimplätze eingerichtet und in 10.556 Wohneinheiten absolute
Belegungsrechte mit Wohnungsgesellschaften und privaten
WohnungseigentümerInnen vereinbart. Schließlich hat die Stadt
Köln alleine 1987 Mietrückstände in Höhe von über 2 Mio. DM
übernommen - fünf Jahre zuvor lag diese Summe noch bei 1,3 Mio.
DM. [46]
Das alles war nach Auffassung des OVG Münster nicht ausreichend,
um die Beschlagnahme von privatem Wohnraum zu rechtfertigen. Mit
dem Beschluß kündigt sich das Ende einer relativ erfolgreichen [47] kommunalen Strategie an, mit
der es z.B. der Stadt Köln noch im Jahre 1989 gelingt, von “3.300
Zwangsräumungen (...) 2.400 durch die sofortige Beschlagnahme [zu]
unterlaufen ”.[48]
In weiteren Urteilen des VG Köln und des OVG Münster aus dem
Jahre 1990 wird die Ansicht vertreten, daß der von der Stadt
Köln angestrebte “Mindeststandard bei der Unterbringung
selbst in den umfunktionierten Lagerhallen noch zu hoch ”[49] sei. Die Gerichte
argumentieren, daß die Stadt schließlich nur verpflichtet sei, “zur
Beseitigung der Obdachlosigkeit eine notdürftige, gerade noch
menschenwürdige Unterkunft bereitzustellen. Dazu gehörten, so
die Gerichte ausdrücklich, auch sogenannte Wohncontainer und
eben Zelte .”[50]
Nach Aussagen eines Mitarbeiters des Düsseldorfer Wohnungsamtes [51] spielt die Beschlagnahme nach
OBG, die in dieser Stadt ohnehin nur in wenigen Fällen angewandt
wurde, seit den Beschlüssen des OVG Münster überhaupt keine
Rolle mehr. Auch von anderen Gerichten wurden die kommunalen
Möglichkeiten [52] zur
Beschlagnahme von Wohnraum in den vergangenen Jahren stark
eingeschränkt. [53]
Diese Rechtsprechung macht deutlich, daß die Prioritäten, die
die genannten Gerichte ihrer Urteilsfindung zu Grunde legen,
eindeutig beim Schutz des von Grundgesetz und BGB garantierten
Eigentums liegen. Der Art. 14 (2) GG, nach dem Eigentum auch
verpflichtet und dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll, spielt
hingegen bei den richterlichen Erwägungen keine herausragende
Rolle.
Es liegt nahe, daß sich ein Funktionsprinzip des Staates BRD
auch in der Rechtsprechung wiederfindet: Der Sozialisierung der
Kosten steht die Privatisierung der Profite gegenüber. Während
die Unterbringung von Obdachlosen aus Steuermitteln von den
öffentlichen Händen finanziert wird, wollen es Gerichte den
PrivateigentümerInnen von Wohnungen, die oft durch hohe Mieten
MitverursacherInnen von Obdachlosigkeit sind, [54] noch nicht einmal zumuten, ihre leeren
Wohnungen von den Kommunen vorübergehend und gegen
Entschädigung beschlagnahmen zu lassen.
[36] Mindestanforderungen sind z.B.: Mindestens 3 qm
Freifläche neben der Abstellfläche für Bett, Tisch, Stuhl pro
Person, ‘ausreichende’ sanitäre Verhältnisse - nicht jedoch
die Abgeschlossenheit der Notunterkunft. Es besteht kein Anspruch
auf die (Wieder)Einweisung in eine bestimmte Unterkunft, vgl.
Schmidt-Futterer, Mietrecht von
A-Z, S. 425.
[37] Ebenda, S. 426.
[38] Wiegand, G., OBG NRW, S. 11.
[39] Ebenda, S. 11.
[40] Ebenda, S. 13, Hervorhebung durch Verf. der
Dipl.-Arbeit.
[41] Wiegand, G., OBG NRW, S. 11 ff.
[42] Es handelt sich hierbei also keineswegs um ein
radikaldemokratisches Element, das - keine(r) weiß wie - Einzug
in ein Gesetz gefunden hat. Weder der Kapitalismus noch die
Freiheitlich Demokratische Grundordnung (FDGO) werden von den
§§ 14 und 19 OBG NRW ernsthaft gefährdet.
[43] OVG Münster, Beschluß vom 18.8.88, S. 2.
[44] Ebenda, S. 3 ff., Hervorhebung i. Orig.
[45] Stadt Köln, Stellungnahme 15.9.88, S. 1.
[46] Vgl. Stadt Köln, Stellungnahme 15.9.88, S. 1 ff.
[47] ‘Erfolgreich’ im Sinne von kurzfristiger
Unterbringung Obdachloser - eine Pflicht der Kommune. Damit
werden natürlich nicht die Ursachen von Wohnungslosigkeit
beseitigt, sondern das Elend nur verwaltet.
[48] Nach Angaben des Leiters des städtischen Wohnungsamtes
beträgt die Zahl der Obdachlosen in Köln im Jahre 1990 44.000,
mit weiter steigender Tendenz, vgl. Kölnische Rundschau,
10.8.90.
[49] Kölnische Rundschau, 10.8.90.
[50] Ebenda.
[51] Vgl. Gespräch Herr Heyer (Wohnungsamt Düsseldorf) am
11.6.92.
[52] Diese Möglichkeiten sind nicht gleichzusetzen
mit dem Willen der Kommunen, das Mittel der Beschlagnahme
tatsächlich anzuwenden. Das macht auch der Vergleich der beiden
Nachbarstädte Düsseldorf und Köln deutlich.
[53] Z.B. vom VGH Baden-Württemberg (NJW 90, 2770) oder vom
Bundesgerichtshof (NJW 90, 2770), vgl. Schmidt -Futterer,
Mietrecht von A-Z, S. 427.
[54] Obdachlosigkeit ist selten auf individuelles
Fehlverhalten reduzierbar. Die häufigste Ursache für das
Entstehen von Obdachlosigkeit sind Mietschulden aufgrund von
Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut. Einkommensarmut macht sich
natürlich in vielen Fällen erst durch eine enorme Mietbelastung
und einen krassen Mangel an preiswerten Wohnungen bemerkbar, vgl.
Könen, R., Wohnungsnot und Obdachlosigkeit im Sozialstaat, S.
54, 72.