Die stürmische Entwicklung der kapitalistischen
Produktion in Deutschland ab 1860 führt nicht nur zu einer
gigantischen Konzentration und Monopolisierung des Kapitals,
sondern auch zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze.
Besonders in den Städten, in denen sich die meisten Unternehmen
ansiedeln, steigt in den Jahren der Industrialisierung die
Bevölkerungszahl gewaltig an. “Der Anteil der in den
Städten wohnenden Bevölkerung stieg von 36 % im Jahre 1871 auf
60 % im Jahre 1910. (...) Diese rasante Verstädterung ist das
Resultat des größten Bevölkerungswachstums in der deutschen
Geschichte
(+ 24 Mio. Menschen!) bei gleichzeitig explosiver
Industrialisierung.” [62]
Der Bedarf der Unternehmen an Nähe zu Rohstoffen und billigen
Arbeitskräften sowie niedrigen Transportkosten und kurzen Wegen
zu den Absatzmärkten bringt auch neue Anforderungen an die
Umgestaltung der Städte mit sich:
“- die Trennung von Wohnen und Arbeiten als Folge der
räumlichen Zentralisation von Arbeitskräften in Fabriken
(Auflösung der Ökonomie des
ganzen Hauses),
- die Möglichkeit der kostengünstigen Standortwahl für
Betriebe,
- die Beschleunigung des Transports von Gütern und Personen .”[63]
In der ‘ökonomischen Stadt’ vollzieht sich die Bodennutzung “nicht
einmal ansatzweise im Rahmen eines Gesamtplanes ”.[64] Fabriken und Wohnungen
entstehen dort, wo Platz ist bzw. Grundstücke verkauft werden.
‘Geordnet’ wird die zunächst fast völlig unregulierte
Bautätigkeit lediglich durch feuerpolizeiliche Verordnungen und
das wachsende Bedürfnis der reichen BürgerInnen und
UnternehmerInnen, eine räumliche Distanz zu den proletarischen
und kleinbürgerlichen Schichten zu schaffen. Die Wohngebiete der
ArbeiterInnen, die sich meist in Fabriknähe befinden, sind
strikt getrennt von denen des BürgerInnentums. [65]
In den Städten verteuern sich Grund und Boden durch
Spekulationsgeschäfte. [66]
Durch die Spekulation steigen die Mieten sprunghaft an. [67] “Krisenabhängige
Beschäftigung, niedrige Löhne und hohe Mieten, unter denen bald
auch das Kleinbürgertum zu leiden hatte, kamen zusammen und
produzierten die Verelendung breiter Schichten der städtischen
Bevölkerung, deren Existenzprobleme immer wieder zu Streiks in
Betrieben und Aufruhr anläßlich von Exmittierungen führten .”[68]
Eine Antwort auf die zunehmende Verelendung der ArbeiterInnen,
die oft unter katastrophalen Bedingungen wohnen, ist die
GenossInnenschaftsbewegung. [69]
Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts entsteht eine
größere Anzahl von BaugenossInnenschaften, deren Ziel “auf
die Erstellung qualitativ guter und billiger Wohnungen und
Wohnhäuser gerichtet [ist], die an die Mitglieder teils
vermietet, teils zu Eigentum überlassen werden; auf diese Weise
sollen das Wohnbedürfnis der Mitglieder befriedigt und deren
Lebensstandard gehoben werden ”.[70] Da zur Errichtung von Wohnraum
außerordentlich viel Kapital benötigt wird und die
GenossInnenschaftsmitglieder, die überwiegend aus der
ArbeiterInnenschaft und dem KleinbürgerInnentum stammen, nur
über bescheidene Einkommen und Vermögen verfügen, erfährt der
Bau genossInnenschaftlicher Wohnungen erst ab 1889 einen
Aufschwung. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Finanzierung der
BaugenossInnenschaften durch die Sozialversicherungsträger und
später auch durch die öffentliche Hand. Es wird erkannt, [71] daß “die wohnliche
Unterbringung der Bevölkerung nicht nur eine Frage ihres
Lebensstandards, sondern auch eine Frage der Volksgesundheit ist ”.[72]
Die schon bald an ihre Grenzen stoßende Nutzung
innerstädtischer Gebiete führt “zu systematischen
Stadterweiterungen, in denen neuer städtischer Raum für Wohnen
und Gewerbe erschlossen wurde .”[73] Damit einhergehend werden die Verkehrswege,
zunächst vor allem die Eisenbahn [74],
ausgebaut.
In den rasch wachsenden Städten herrschen zu diesem Zeitpunkt
katastrophale hygienische Verhältnisse. Die enge Bauweise und
die schlechten sanitären Anlagen begünstigen Mitte der 19.
Jahrhunderts sowohl den Ausbruch von verheerenden Großbränden
(Hamburg 1842) als auch von Epidemien (vor allem der Cholera).
Mit Hilfe englischer Ingenieure [75]
werden nach und nach in allen deutschen Städten
Schwemmkanalisationssysteme angelegt, mit deren Hilfe die
Ausbreitung von Krankheitserregern unterbunden wird, die bislang
durch die Vermischung von Trink- und Abwasser begünstigt worden
war. Trotz zahlreicher Bemühungen zur Verbesserung der
ungesunden Wohnverhältnisse und der Schaffung billigen Wohnraums
für ArbeiterInnen, müssen die mehrheitlich aus dem
BürgerInnentum stammenden ProtagonistInnen der ‘Gesundheitsbewe-gung’
[76] am Ende dieser Periode
eingestehen, daß die “Quadratur des Kreises - die
Herstellung billiger und gesunder Wohnungen bei
uneingeschränkter privater Verwertung des Bodens - nicht
gelungen war ”.[77]
Den kulturell-architektonischen Ausdruck seiner ökonomischen
Macht findet das deutsche BürgerInnentum, indem es auf die
städtebaulichen Vorbilder Paris und Wien schaut. In Paris
verteilt sich “die neue Infrastruktur der bürgerlichen
Stadt repräsentativ im Stadtraum: die Rathäuser,
Verwaltungssitze, Krankenhäuser und Gefängnisse. Ein Netz von
Straßendurchbrüchen durch die alte Stadt ließ die viel
bewunderten Boulevards entstehen (...). Schließlich dienten
diese Durchbrüche auch der Verbesserung der Verkehrsbeziehungen
zwischen Bahnhöfen der verschiedenen Stadtteile (...). Was
Engels als ‘die Praxis des Breschelegens in die Arbeiterbezirke’
(...) sah, riß das bürgerliche französische und ausländische
Publikum zur Begeisterung hin .”[78] Diese Leitbilder kommen in vielen
Stadterweiterungsplänen deutscher Städte nachhaltig zum Tragen.
Für Städte wie Köln oder Berlin kann nachgewiesen werden, wie
sehr städtebauliche Vorbilder aus Wien oder Paris die Errichtung
von ‘Monumenten bürgerlichen Stolzes’ (Theater, Museen etc.)
oder den Bau von breiten Ring- und Prachtstraßen beeinflußt
haben. [79]
[61] “Als ‘vorfordistisch’ gilt die Gesellschaft,
wenn die Akkumulation des Kapitals extensiv und noch auf die
Produktionsmittelindustrie beschränkt ist und die Reproduktion
der Arbeitskräfte im wesentlichen in traditionellen,
vorkapitalistischen Bahnen verläuft”, ebenda, S. 34.
[62] Häußermann, H.,Siebel, W., Neue Urbanität, S. 24.
[63] Rodenstein, M., Städtebaukonzepte; in: Häußermann,
H., u.a., Stadt und Raum, S. 36.
[64] Deutscher Städtetag, Rettet unsere Städte jetzt, S.
13.
[65] Vgl. Rodenstein, M., Städtebaukonzepte; in:
Häußermann, H., u.a., Stadt und Raum, S. 36.
[66] “Das Resultat ist, daß die Arbeiter vom
Mittelpunkt der Städte an den Umkreis gedrängt, das Arbeiter-
und überhaupt kleinere Wohnungen selten und teuer werden und oft
gar nicht zu haben sind; denn unter diesen Verhältnissen wird
die Bauindustrie, der teurere Wohnungen ein weit besseres
Spekulationsfeld bieten, immer nur ausnahmsweise
Arbeiterwohnungen bauen ”, Marx, K., Engels, F.,
Ausgewählte Werke, Band IV, S. 195.
[67] Vgl. Rodenstein, M., Städtebaukonzepte; in:
Häußermann, H., u.a., Stadt und Raum, S. 36.
[68] Ebenda , S. 41 ff.
[69] Ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickeln sich
in Deutschland verschiedene GenossInnenschaftsformen. Vor allem
sind dies: Einkaufs- und KreditgenossInnenschaften von kleinen,
selbstständigen HandwerkerInnen, ProduktivgenossInnenschaften
von ArbeiterInnen sowie Spar- und Darlehnskassen auf
genossInnenschaftlicher Basis für Landwirte, vgl. Schultz, R.,
Genossenschaftswesen, S. 28-33.
[70] Ebenda, S. 36.
[71] Dies geschieht natürlich nicht in erster Linie, weil
der Staat auf einmal seine Fürsorgepflicht für ArbeiterInnen
entdeckt hat. Die öffentliche Unterstützung resultiert zum
einen aus dem stärker werdenden Druck der ArbeiterInnenbewegung,
zum anderen aus dem Bedarf der UnternehmerInnen an billigen und
gesunden Arbeitskräften.
[72] Ebenda, S. 36.
[73] Rodenstein, M., Städtebaukonzepte; in: Häußermann,
H., u.a., Stadt und Raum, S. 36.
[74] Dem motorisierten Kraftverkehr kommt in dieser Phase
noch keine große Bedeutung zu. Straßenbau ist eher im
Zusammenhang mit der Demonstration von Macht und kultureller
Bedeutung des in den Städten herrschenden BürgerInnentums und
den wachsenden hygienischen Erfordernissen von Bedeutung, vgl.
ebenda, S. 37.
[75] Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt wesentlich
fortgeschrittener in der Entwicklung z.B. von
Abwassertechnologien.
[76] Das wachsende Interesse des BürgerInnentums an den
Lebensbedingungen der ArbeiterInnen entsprang dem Interesse der
Unternehmer an gesunden Arbeitskräften, aber auch der Angst vor
sozialen Unruhen und bürgerlich-christlichen Moralvorstellungen.
[77] Rodenstein, M., Städtebaukonzepte; in: Häußermann,
H., u.a., Stadt und Raum, S. 45.
[78] Ebenda, S. 40.
[79] Ebenda, S. 40.