1.2 Ökonomische und soziale Entwicklung

1.2.1 1945 ff.: Gegen die Macht der Monopole - die neue Macht der Monopole

In großen Teilen der Bevölkerung herrscht 1945 zunächst eine relativ starke antikapitalistische Stimmung, die sich unter anderem im sehr guten Abschneiden der beiden Parteien KPD und SPD bei zahlreichen Betriebsratswahlen 1945/46 widerspiegelt. [396] Von vielen wird der gescheiterte Faschismus mit der Macht der Unternehmen in Verbindung gebracht. In Sachsen, das unter sowjetischer Militärverwaltung steht, sprechen sich bei einer Volksabstimmung am 30. April 1946 (bei einer Wahlbeteiligung von über 93 %) 77,62 % der Wahlberechtigten für die Vergesellschaftung der Betriebe von ‘Nazi- und Kriegsverbrechern’ aus. [397] Und auch im von US-Truppen besetzten Hessen stimmen am 1. Dezember 1946 71,9 % der Wahlberechtigten für die Überführung von Bergbau, Eisen- und Stahl erzeugender Industrie sowie der Eisenbahn in gesellschaftliches Eigentum. [398]
Sowohl die SPD als auch die neugegründete CDU haben nach 1945 zunächst antimonopolistische, ja antikapitalistische Forderungen in ihren Parteiprogrammen stehen. Im Jahre 1947 verabschiedet die CDU ihr Ahlener Programm, in dem der Kapitalismus für überlebt erklärt und die Sozialisierung von Großbetrieben gefordert wird. Allerdings gibt sich die Partei schon zwei Jahre später, 1949, “die ‘Düsseldorfer Leitsätze’, welche sie auf eine ausschließlich privatwirtschaftliche Orientierung [399] festlegt. Und 1957 erklärt der damalige stellvertretende CDU-Parteivorsitzende Meyers, daß man “das Ahlener Programm aus den Gegebenheiten der Zeit verstehen [müsse] , in der es entstanden ist. Dieses Programm habe schon damals die Sozialisierung verhindern sollen .”[400] Auch die SPD vertritt noch bis zu ihrem Parteitag von Bad Godesberg im November 1959 Positionen, in denen das Privateigentum an Produktionsmitteln grundsätzlich in Frage gestellt wird. [401]

1.2.2 1948 ff : Marshall-Plan und ‘Wirtschaftswunder’

In den ersten drei Jahren nach dem Krieg werden die Löhne der ArbeiterInnen überwiegend in fast wertlosem Papiergeld ausgezahlt, das mit der Währungsreform 1948 neunzig Prozent seines Wertes verliert, während die Unternehmen ihre Gewinne in Waren, Gebäude, etc. anlegen, deren Wert durch die Währungsreform nicht beeinträchtigt wird. Dies, die aus der Boom-Phase bis 1945 über die Kapitulation herübergeretteten Produktionsmittel sowie die von 1948 bis 1952 von den USA gewährten Marshall-Plan-Mittel [402] in Höhe von 1,561 Milliarden Dollar, führen zu einem raschen Wirtschaftsaufschwung in den drei Westzonen, der über mehrere Konjunkturzyklen bis 1966 anhält. [403] Die bis 1955 anhaltende, relativ hohe Arbeitslosigkeit engt die Spielräume für Lohnforderungen der ArbeitnehmerInnen ein. Die Steigerungsraten der Unternehmensgewinne liegen stets über den Lohnzuwächsen, jedoch steigen auch letztere real an. “Die Zeitweilige Vereinbarkeit steigender Profite und zunehmender Einkommen aus abhängiger Tätigkeit förderte Tendenzen zur ‘Sozialpartnerschaft’ .”[404] Der von der CDU und ihrem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard propagierte Ordo-Liberalismus schränkt das ‘freie Spiel der (Markt)Kräfte’ durch Interventionen des Staates nur dort ein, wo es zu Monopolbildung oder der Verelendung der Einzelnen führt. Jede Form der Planwirtschaft wird abgelehnt bzw. als kommunistisch-totalitär denunziert. Es ist die Zeit von Wiederaufbau und ‘Wirtschaftswunder’, in der die Erfahrung, durch eigene Leistung die persönliche Situation entscheidend zu verbessern, zu einer “relativ starke [n] Identifikation breiter Volksschichten mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem ” führt. [405]

1.2.3 1966 ff : Wirtschaftskrise, ‘wilde Streiks’ und ‘starker Staat’

Mit der ersten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik im Jahre 1966 zerbricht ein “bisher unumstößliches Dogma der westdeutschen Wirtschaftspolitik (...): die von Ludwig Erhard immer wieder vorgetragene These, der Kapitalismus sei völlig krisenfrei, wenn man ihm nur nicht zu sehr ins Handwerk pfusche .”[406] In dieser Krise erhöht sich die Zahl der Arbeitslosen in nur einem Jahr von 0,7 % (1966) auf 2,1 % (1967). Die bisher vorherrschende Politik des relativ unregulierten Liberalismus wird ergänzt durch Elemente der Theorie von John Maynard Keynes, der während der Weltwirtschaftskrise 1929/33 gefordert hatte, daß der Staat in Form von stärkerer wirtschaftlicher Eigentätigkeit der Öffentlichen Hand - vor allem zur Senkung der Arbeitslosigkeit und Erhöhung der Kaufkraft (das heißt: Stimulierung der Nachfrage) - in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen müsse. Der neue Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) versucht, die Konjunktur durch erhöhte Staatsausgaben (die wiederum zunächst durch erhöhte Schuldenaufnahme gedeckt werden sollen) zu stimulieren. Entscheidend ist jedoch der Aufbau eines Instrumentariums, “durch welches der Staat über die Steuerpolitik und seine eigenen Investitionen hinaus weitere Rahmenbedingungen für die Einzelentscheidungen der Unternehmer, die im übrigen nicht angetastet [407] werden, schaffen kann. Dies geschieht mittels der ‘Globalsteuerung’, mit deren Hilfe sowohl gesamtwirtschaftliche Daten für die Privatwirtschaft erarbeitet als auch das (Investitions-)Verhalten der Öffentlichen Hand stärker kontrolliert und koordiniert werden kann. Ab 1967 werden jährliche “Orientierungsdaten für ein aufeinander abgestimmtes Verhalten der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmerverbände [408] vorgelegt. Durch freiwillige Übereinkunft finden sich Unternehmerverbände und Gewerkschaften unter dem Dach der Regierung zur sogenannten ‘Konzertierten Aktion’ zusammen, um die Tarifpolitik den vom Staat vorgegebenen, gesamtwirtschaftlichen Eckwerten unterzuordnen. So gibt die Bundesregierung ‘Lohnleitlinien’ für Tarifverhandlungen aus, die stets ‘maßvolle’, das heißt geringe, Lohnerhöhungen für die ArbeitnehmerInnenseite vorsehen. Davon profitiert letztlich die UnternehmerInnenseite, deren zum Teil erheblichen Gewinne mit dem Argument, die Preisstabilität durch hohe Lohnforderungen nicht gefährden zu dürfen, nicht an die ArbeitnehmerInnen weitergegeben werden. So kommt es im September 1969 zu spontanen Streiks von Berg- und MetallarbeiterInnen in NRW, im Saarland und anderen Bundesländern, die UnternehmerInnen und Gewerkschaftsführungen gleichermaßen überraschen. Eilig werden nun vorgezogene Verhandlungen geführt, in denen die Tarifabschlüsse weit überhalb der von der konzertierten Aktion gesetzten Grenzen getätigt werden - ein klarer Sieg der ArbeiterInnen und eine Warnung auch an die stets kompromißbereiten Gewerkschaftsführungen. [409] Der bis 1969 herrschende ‘soziale Burgfriede’ scheint vorbei zu sein.

1.2.4 1970 ff : Die Grenzen der Reformpolitik

In den Jahren von 1970 bis 1973 treten eine Reihe von Gesetzen in Kraft, die die Stellung der Gewerkschaften bei der betrieblichen Mitbestimmung stärken (z.B. Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972) sowie die sozialen Bedingungen der ArbeitnehmerInnen verbessern (z.B. Gesetz über sechswöchige Lohnfortzahlung bei Krankheit von 1970). Ihren Gipfel findet die Diskussion um eine Reform des Kapitalismus in der unter anderem von den Jungsozialisten in der SPD (Jusos) 1973 vertretenen Forderung nach demokratisch legitimierter Investitionslenkung, was nichts anderes als einen Eingriff der Bundesregierung in die Alleinverfügungsgewalt der Unternehmen bedeutet. Jedoch: “Die Führung der SPD lehnte ab. Das Scheitern dieses reformsozialistischen Vorstoßes markiert eine wichtige Grenze der sozialliberalen Regierungstätigkeit .”[410]
Insgesamt kommt es bis 1973 zu zahlreichen Arbeitskämpfen - auch vermehrt im Öffentlichen Dienst - mit z.T. hohen Lohn- und Gehaltsforderungen. Etliche davon, wie z.B. der Streik im Öffentlichen Dienst 1973, werden von den Gewerkschaften mit relativ hohen Abschlüssen gewonnen. Ab 1974 geraten die ‘sreikfreudigen’ Gewerkschaften unter den immer stärker werdenden Druck der veröffentlichten Meinung, der Unternehmerverbände und der Bundesregierung, die unter Helmut Schmidt wieder zu mehr ‘Mäßigung’ der ArbeitnehmerInnen aufruft. [411]

1.2.5 1973 ff : Der Siegeszug des Neoliberalismus

Bereits im Frühjahr 1973 leiten Regierung und Bundesbank eine ‘Politik des knappen Geldes’, das heißt massive Ausgabenkürzungen in den meisten Ressorts - allerdings ohne Eingriffe in den Verteidigungsetat - ein. Das keynesianistische Modell der staatlichen Nachfrageförderung (unter anderem durch massive Investitionen) wird abgelöst vom nachfrageverringernden Modell der ‘maßvollen’ Vermehrung der umlaufenden Geldmenge, das zu einer Dämpfung von Inflationstendenzen führen soll. So wird den gesellschaftlichen Reformprojekten - unter dem Einfluß der Ideen des neoliberalen US-Ökonoms Milton Friedman - nach nur drei Jahren die finanzielle Grundlage entzogen. [412]
1974 beginnt die zweite große Wirtschaftskrise in der Geschichte der BRD. Das Bruttosozialprodukt sinkt im folgenden Jahr um 1,8 % und die Arbeitslosigkeit überschreitet 1975 mit einer Quote von 4,7 % erstmals die Millionengrenze (1,074 Mio.). Auch im Aufschwungsjahr 1976 kann sie lediglich um 0,1 % gesenkt werden. Am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffen sind Jugendliche und AusländerInnen, und hier vor allem Frauen. Auch Hochschul-absolventInnen sind oft direkt nach ihrem Studium arbeitslos. [413]
Die Regierung Schmidt versucht der Krise mit Hilfe von unternehmerInnenfreundlichen Maßnahmen wie Investitionszulagen (1975-78), Senkung der Vermögens- und Gewerbesteuer (1977 und 78) sowie Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten entgegenzuwirken. [414] Die von den Unternehmen eingesparten Mittel werden aber in erster Linie für arbeitsplatzvernichtende Rationalisierungen verwendet. Lediglich das großangelegte staatliche ‘Zukunftsinves-titionsprogramm’ (1977-80) führt zur zusätzlichen “Beschäftigung von 300.000 Erwerbspersonen, (...) [wirkt] also dämpfend auf die Arbeitslosigkeit .”[415]
Seit Mitte der siebziger Jahre stehen die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche im Zentrum zahlreicher Arbeitskämpfe und gewerkschaftlicher Forderungen. [416] Bei den heftigen Auseinandersetzungen 1978 in der Druckindustrie, deren Beschäftigte besonders stark von Rationalisierungsmaßnahmen der Unternehmensleitungen betroffen wurden, setzen die ArbeitgeberInnen das Mittel der Aussperrung massiv ein. Von Gewerkschaftsseite wird - vergeblich - deren gesetzliches Verbot gefordert. [417]
Im Jahre 1980 sinken - zum ersten Mal in der Geschichte der BRD - die Reallöhne.


[396] So ist bei den 1946 im Ruhrgebiet stattfindenden Betriebsratswahlen die KPD in fast allen Betrieben die stärkste Partei, oftmals dicht gefolgt von der SPD, vgl. Schreiber, W.P., IG Farben, S. 144.
[397] Vgl. ebenda, S. 146.
[398] Vgl. Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 12.
[399] Ebenda, S. 15.
[400] Schreiber, W.P., IG Farben, S. 161 ff.
[401] Von diesem Parteitag an bekennt sich die SPD allerdings auch programmatisch zur “Perspektive eines reformierten Kapitalismus, in dem die Spontaneität des Wirtschaftsprozesses durch politische Eingriffe gezügelt, das Privateigentum an Produktionsmitteln jedoch nicht prinzipiell in Frage gestellt werden [soll]”. - Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 48 ff.
[402] Vgl. Schreiber, W.P., IG Farben, S. 148.
[403] Vgl. Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 31.
[404] Ebenda, S. 31.
[405] Dies wird noch untermauert durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der DDR, die viele Menschen zum Verlassen des Landes bewegen und die Verankerung des politischen Systems in der Bevölkerung schwächen. “Der zweite deutsche Staat hatte schon von seiner Struktur her schlechtere ökonomische Startbedingungen als die Bundesrepublik. Er mußte die Last der Reparationen für die im Krieg nahezu ausgeblutete UdSSR stellvertretend für ganz Deutschland tragen, während die Bundesrepublik davon frei blieb und überdies Marshall-Plan-Gelder erhielt ”, ebenda, S. 32.
[406] Fülberth, G., Neubau oder Reparatur? in: Klamm, Heimlich und Freunde, S. 19 ff.
[407] Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 59.
[408] Ebenda, S. 59.
[409] vgl. ebenda, S. 64 ff. - Noch bis in die sechziger Jahre hinein konnten Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung und Sozialgesetzgebung - vor allem aufgrund der seit 1955 ansteigenden Arbeitskräfte knappheit - in der Regel auch ohne große Streikbewegungen durchgesetzt werden, vgl. ebenda, S. 44.
[410] Ebenda, S. 82.
[411] Vgl. Ebenda, S.79 ff.
[412] Vgl. Ebenda, S. 78.
[413] Vgl. Ebenda, S. 87.
[414] Dies geschieht gemäß dem Motto, daß eine Stärkung der Unternehmen auch zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen führe...
[415] Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 87.
[416] Seit 1979 gilt sowohl für Angestelle als auch für ArbeiterInnen die 40-Stunden-Woche.
[417] Vgl. Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 100.


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